Osterspiel ist die älteste mittelalterliche Dramenform, die für die Ausgestaltung des geistlichen Dramas eine zentrale Rolle spielte. Das Osterspiel thematisiert das österliche Heilsgeschehen. Es entstand aus der Liturgie der Osterfeier. Den Kern bildete der zur österlichen Liturgie gehörende, im 10. Jahrhundert entstandene Wechselgesang zwischen den von Geistlichen dargestellten drei Marien und dem Engel am leeren Grab Christi. Im Lauf der Zeit wurde diese Kernszene durch die Aufnahme weiterer zum Ostergeschehen gehörender Szenen (etwa die Begegnung Christi als Gärtner mit Maria Magdalena, Auferstehung Christi, Wettlauf von Petrus und Johannes zum Grab usw.) ergänzt. Auch wurde die dramatische Handlung in der Folge immer mehr betont, so dass die anschauliche, lebendige Darstellung des Heilsgeschehens ins Zentrum des Interesses rückte.
Aus dem Osterspiel entwickelte sich das Passionsspiel. Auf dieselbe Weise übernahmen die Weihnachtsspiele die Textformeln der liturgischen Weihnachtszeremonie. Die oft mehrtägigen Aufführungen wurden an hohen kirchlichen Feiertagen (neben Ostern und Weihnachten Christi Himmelfahrt, Fronleichnam, Patroziniumsfeste usw.) gemeinsam von Klerus und Laien auf städtischen Plätzen vor einem Massenpublikum dargeboten.
Inhaltlich griffen die Verfasser geistlicher Dramen biblische Stoffe auf (Bibelspiele): bereits die frühen englischen und französischen Mysterienspiele wie auch die ersten Passionsspiele aus dem deutschen Sprachraum stellten die gesamte Heilsgeschichte von der Weltschöpfung bis zur Ankündigung des zu erwartenden Weltendes dar. Spätere Passionsspiele konzentrieren sich auf die Darstellung der Leidensgeschichte Christi; das Jüngste Gericht steht im Zentrum der eschatologischen Spiele und der so genannten Antichristspiele.
Eine weitere Gruppe bilden die Mirakelspiele, dramatisierte Heiligen- und Märtyrerlegenden. Unabhängig vom biblischen Motivbereich argumentierten die lehrhaft-allegorischen Sinnspiele bzw. Moralitäten, in denen Personifikationen menschlicher Tugenden und Laster auftraten [6].
Mit Schwank und Fastnachtspiel sind weltliche Literaturformen des Spätmittelalters vorzustellen, die unterhaltenden Charakter haben. Schwank wie Fastnachtspiel erfreuten sich großer Beliebtheit, und ein nicht unwesentlicher Grund für die breitgefächerte Aufnahmebereitschaft des Publikums gegenüber dem geistlichen Drama wird darin bestanden haben, dass szenische und figürliche Elemente aus der komischen in die geistliche Dichtung übertragen würden. Während der Schwank auf eine bis in die Antike zurückreichende Tradition verweisen kann, tritt das Fastnachtsspiel erstmals im 15. Jahrhundert in schriftlich fixierter Form auf. Das komische Genre des Schwanks entstammt keiner genuin literarischen Form, sondern einer allgemeinmenschlichen Lust auf Entspannung, Witz, Satire und Ironie. Der Schwank ist mit dem Märchen, der Anekdote, der Fabel, dem Witz, dem Exempel, der Humoreske verwandt. Ihm zuzuordnen sind und auch so weitverbreitete Themen der Zeit wie der „Wettlauf des Hasen mit dem Igel“. Die lateinisch überlieferte Schwankdichtung des Mittelalters wirkt direkt auf die im 14./15. Jahrhundert feststellbaren Formen und Themen ein. Im Rahmen der sich entwickelnden Kleinepik verselbständigt sich der Schwank und wird zu einer eigenständigen Erzählform, die von der Pointe bestimmt ist. Die Schwankdichtung des Spätmittelalters wendet sich zunächst an den Adel und das Patriziat, und erst im Laufe des 16. Jahrhunderts kommt der volkstümliche Prosaschwank auf.
Aus der Vielzahl der überlieferten Schwankliteratur sei als Beispiel Heinrich Wittenwilers „Ring“ herausgegriffen. Wie kein anderes Werk seiner Zeit hängt Heinrich Wittenwilers „Ring“ vielfältig im Netz der kleinen Reimpaargedichte und ist unter den verwandten Großformen zugleich ein Fremdkörper.
Der Verfasser stammte wohl aus einer thurgauischen Familie, die in dem Städtchen Lichtensteig im Toggenburg ansässig war. Den „Ring“ verfasste er wohl um oder nach 1400. Das Werk ist – sehr ungewöhnlich für die Zeit – in einer alemannisch-bairischen Mischsprache abgefasst, was auf einen auswärtigen Auftraggeber oder ein intendiertes überregionales Publikum schließen lässt.
Der Prolog gliedert das Werk thematisch in drei Teile: der erste soll Turnieren und höfisch um eine Frau Werben lehren. Der zweite soll darin unterweisen, wie man sich innerlich, äußerlich und gegenüber der Welt richtig verhält, der dritte, wie man in Not- und Kriegszeiten am besten fährt. Zum Zwecke solcher Unterweisung nutzt Wittenwiler gezielt das Potential der verschiedensten Redetypen: Minnereden(Werbungslehre, Briefe, Allegorie), Stände-Tugendreden (Ehedebatten, Schülerlehre, Überweisung über die vier Kardinaltugenden), geistliche Reden (Glaubenslehre, Memento mori), pragmatische Reden (Turnierlehre, Rezept zur Vortäuschung der Jungfräulichkeit, Haushaltung und Hausrat, Gesundheitslehre, Kriegführung). Neben solchen Redepassagen verwendet er aber auch Teile der Handlung selbst, so zum Beispiel die Fress- und Sauforgie der Hochzeitsfeier, in der er präzise eine negative Tischzucht verschlüsselt. Ferner montiert er literarische Versatzstücke (negative weibliche und positive männliche Schönheitsbeschreibung, Tanzlieder, Gesellschaftslied, Tagelied) und Gebrauchstexte ein (Vaterunser, Ave-Maria, Beichtformel in Prosa). Die Erzählung übertrifft immer wieder alles, was wir an parodistischen und komischen Reden oder Schwänken der Zeit kennen. Diese brisante Mischung aus schwarzem Humor und Obszönität in einem Extrem und hohem Ernst und ethischem Anspruch im anderen hat in der Forschung viele Fragen und Kontroversen hervorgerufen. Wittenwiler selbst war sich der Verwirrung, die das Werk stiften mochte, bewusst und gibt dem Leser gewisse Verständnishilfen.
Er betont gleichfalls, dass man hier keine Ständesatire auf die Bauern beabsichtigt. Es ist auf einen gehobenen standbürgerlichen Horizont ausgerichtet.
Es ist weder zu hoffen, noch zu befürchten, dass man sich auf die Gattungszugehörigkeit des „Rings“ oder den Standpunkt und die Perspektive seines Autors bald wird einigen können. Das Werk ist ein Schwankroman, der in einer Massenschlacht endet, eine Enzyklopädie menschlichen Verhaltens, die von Narren ausagiert wird. Nach Lehrinhalten ist der „Ring“ breiter gestreut als andere didaktische Großformen der Zeit. In Analogie zu zeitgenössischen Sammelhandschriften könnte man ihn auch als „Handbuch“ bezeichnen, freilich eines, das in eine verkehrte Welt verpackt ist.
Mit seinen drei Handlungsschritten ist der „Ring“ der Belehrung über die ritterlichen und die musischen Künste (Minneparodie als Motiv der Brautwerbung), der Entwicklung einer Tugendlehre, eines Schülerspiegels, einer Christenlehre, einer Haushaltungslehre und einer Gesundheitslehre (als den parodistischen Gegenständen der „Gelehrtendisputation“ vor der Hochzeit), einer ins Farcenhafte übertriebenen Tischzucht während des Hochzeitsmahls und einer Belehrung über das Kriegs- und Belagerungswesen während der abschließenden Kampfhandlungen gewidmet.
Wittenwiler hat diese didaktische Absicht im Umfeld der dörflich-bäuerlichen Lebensweise angesiedelt, aber er kritisiert damit keineswegs den vierten Stand; seine „Bauern“ sind ins Komische übertriebene Stadtbürger, unter denen er wohl auch sein Publikum gesucht hat, weil sie einzig in der Lage waren, die Summe seiner Anspielungen auf den zeitgenössischen Bildungshorizont zu verstehen. „Das Werk enthält die Synthese der Möglichkeiten spätmittelalterlicher Dichtung. Wir haben damit ein Epos vor uns von inneren Dimensionen, wie es die Zeit schon lange nicht mehr aufzuweisen hatte. Weltbild und Wirklichkeitsauffassung des Dichters ermöglichen seinem eminenten Gestaltungsvermögen die enge Verbindung von kräftigem Naturalismus und willkürlich-grotesker Phantastik, Übersteigerung und Verzerrung“ (H. Rupprich).
Großer Beliebtheit erfreuten sich Schwänke, deren Hauptfigur Till Eulenspiegel war. Er war ein Bauernschelm, der Anfang des 14. Jahrhunderts in Deutschland gelebt haben soll. In den zahlreichen Volksbüchern und Legenden wurde Till Eulenspiegel zum Prototyp des bauernschlauen Pfiffikus, der einfaches Volk und Standespersonen durch List und Wortwitz hinters Licht führt und des Öfteren auch in bescheidenem Maße schädigt.
Berühmt ist die Episode, in der er als Bäckergehilfe einen ärgerlichen Ausspruch seines Brotherrn wörtlich nimmt und „Eulen und Meerkatzen” backt. Ansonsten wurden meist Respektspersonen, wie etwa kirchliche Würdenträger und Adelige, übertölpelt. Eulenspiegel reflektiert dabei auch satirisch-ironisch die herrschenden gesellschaftlichen Konventionen [2; S.124-127].
Michail Bachtin, wichtigster Theoretiker dieser spätmittelalterlichen Lachkultur, schreibt: „Das mittelalterliche Lachen ist kein subjektiv-individuelles und kein biologisches Empfinden der Unaufhörlichkeit des Lebens – es ist ein soziales, ein das ganze Volk umfassendes Empfinden. Der Mensch empfindet die Unaufhörlichkeit des Lebens auf dem öffentlichen Festplatz, in der Karnevalsmenge, indem er sich mit fremden Leibern jeden Alters und jeder sozialen Stellung berührt. Er fühlt sich als Glied des ewig wachsenden und sich erneuerndes Volkes. Deshalb schließt das festtägliche Lachen des Volkes nicht nur das Moment des Sieges über die Furcht vor den Schrecken des Jenseits, vor dem Geheiligten, vor dem Tod in sich ein, sondern auch das Moment des Sieges über jede Gewalt, über die irdischen Herrscher, über die Mächtigen der Erde, über alles was knechtet und begrenzt. Indem das mittelalterliche Lachen die Angst vor dem Geheimnis, vor der Welt und vor der Macht besiegte, deckte es furchtlos die Wahrheit über Welt und Macht auf. Es stellte sich der Lüge und der Beweihräucherung, der Schmeichelei und der Heuchelei entgegen. Die Wahrheit des Lachens „senkte“ die Macht, paarte sich mit Fluchen und Schelte. Träger dieser Wahrheit war neben anderen auch der mittelalterliche Narr.“
Für gewöhnlich wird die italienische Renaissance als die Geburtsstunde der Novelle angesehen. Tatsächlich ohne die Leistung der italienischen Novellendichter, allen voran Boccaccios („Decamerone“ 1348/53), die Geschichte der neuzeitlichen Novelle gar nicht vorstellbar. Mag es zunächst auch so scheinen, als habe Deutschland daran zunächst nur rezeptiven Anteil, weil deutsche Humanisten im wesentlichen nur fremde Vorlagen übersetzen, so lehrt die Vor- und Frühgeschichte der Novelle doch eine andere Sicht, wonach die italienischen Kleinerzählungen gemäß der selbstbewussten Entwicklung der städtischen Kultur, in deren Raum sie entstehen, nach wie vor als andernorts nicht erreichbare Höhepunkte der Gattungsgeschichte gelten müssen, die anderen Literaturen Europas aber keineswegs ohne eigene beachtenswerte Leistungen auf dem Gebiet der Kleinepik sind.
Die deutsche Entwicklung speist sich wie die italienische und andere aus mündlichem Erzählgut und mittelalterlichen Literarisierungen vor allem schwankhafter Natur. Durch Vermittlung französischer Texte hat auch sie Anteil an antiken Vorgaben, schlägt aber, bedingt durch Besonderheiten der außerliterarischer Situation, in Deutschland auch eigene Wege ein, deren gattungstheoretische Einordnung schwierig ist.
Vielfach sind auch kleinepische Texte in Deutschland von standesspezifischen Diskussionen geprägt, bei denen die Dichter aus dem Gesamtinventar kleinepische Formen schöpfen. Daneben kommen einzelne nichthöfische Kleinepen, die von bürgerlichen Autoren stammen, in Form und Inhalt dem späteren Ideal der Novelle schon sehr nahe. Angesichts der „Unsicherheit“ der zeitgenössischer Benennungen für die sowohl in Versform wie in Prosa auftretenden Erzählungen ist es gelegentlich sogar irreführend, wenn einzelne Benennungen hochstilisiert werden. Irreführend insofern, als der lebendige Umgang mit seht verschiedenen Gestaltungsmöglichkeiten, wie er die Produktion der Dichter, aber auch das Verständnis vom Sammlern bestimmt, zugunsten einer statischen Katalogisierung geleugnet wird.
Ein summarischer Überblick kann ohnehin nur festhalten, dass die spätmittelalterliche deutsche Kleinepik den literarischen Bezirk darstellt, in dem sie die größtmögliche thematische Vielfalt ereignet. Damit ist sie auch der fruchtbarste Boden für die Weiterentwicklung der volkssprachlichen Literatur von einer Veranstaltung für wenige zum Medium für viele.
Im deutschen Mittelalter berühren sich Fabel, Bispel und Exempel vielfach. Die Fabel kennzeichnen knappe fiktive Vorgänge, die meist von Tieren – gelegentlich von Pflanzen oder unbelebten Objekten – ausagiert werden, als Spiegel menschlichen Verhaltens gedacht sind und von prägnanten Lehren oder Erfahrungssätzen beschlossen werden. Charakteristisch ist für das Bispel seine Gliederung in einen ersten, gedrängt erzählenden oder beschreibenden und einen (diesen oft Punkt für Punkt) auslegenden zweiten Teil, der ebenfalls in lehrhaften Maximen endet. Als Exempel kann schließlich jede aufs knappste reduzierte Erzählung, Schilderung oder Beschreibung dienen, an der sich eine allgemeine Lehre demonstrieren lässt.
Abgrenzungen zwischen den drei Typen können schon deshalb nie ganz reinlich sein, weil der Erzählteil vieler Tierbispel aus altem Fabelgut stammt. Für die Bispelautoren stellen die Fabeln nur einen, wenn auch recht beliebten, Bereich dar, aus dem sie sich Anregung oder Stoff für den Erzählteil holten. Darüber hinaus schöpften sie aus einem noch reicheren Reservoir, das aus exempelartigen Formen, allerlei Denkwürdigkeiten, Anekdoten usw. bestanden haben muss. Quellen sind hier nur in de seltensten Fällen dingfest zu machen.
Gestützt auf die verschiedensten Indizien, hat die Forschung zwar eine ganze Reihe von Fabeln, Bispel und Exempeln bestimmter Autoren mehr oder minder sicher zuweisen können, aber verglichen etwa mit Mären oder Minnereden, ist Verfassernennung in diesen Genres noch viel seltener. Anonymität scheint ähnlich zu den Gattungsregeln zu gehören wie in der Heldenepik oder im Minnesang, vielleicht weil sich der einzelne auch hier eher als Sachwalter einer Tradition versteht, selbst wenn diese die Volkssprache übergreift [7; S.57-59].
Innerhalb der Kleinepik wie innerhalb der Reimpaargedichte nimmt die Fabel eine Sonderstellung ein. Diese ist nicht aus der Überlieferung ablesbar. Sie beruht vielmehr darauf, dass die Fabel durch die Jahrhunderte hindurch kaum feste Gattungskonventionen innerhalb der jeweiligen volkssprachigen Literatur entwickelt. Hingegen regeneriert sie sich ständig aus einem weitverzweigten lateinischen Traditionsnetz. Auf der literarischen Ebene bleibt die deutsche Fabel im Mittelalter keineswegs aufs kleine Reimpaargedicht beschränkt, obwohl dies im 13. und 14. Jahrhundert ihre dominierende Form ist. Immer wieder bedienen sich der Fabel ferner die Sangspruchdichter, zum Beispiel Herger, Reinmar von Zweter, Konrad von Würzburg, der Marner und Frauenlob, die sie jedoch – ähnlich wie Freidank in seiner Kurzgnomik – oft bis zur knappen Anspielung verkürzen.
Im 14. Jahrhundert erlebt die geistliche Literatur, vor allem in Predigt, Legende und Vision, noch einmal einen Höhepunkt. Sie wird angeregt von der Mystik.
Am Beginn mystischer Literatur, die schon wesentlich früher einsetzt, steht „Das fließende Licht der Gottheit“ der Mechthild von Magdeburg (um 1210 bis 1282 oder 1297). Die aus sächsischem Adelgeschlecht stammende Mechthild trat nach Erleuchtungserlebnissen in ihrer Jugend als Begine (Laienangehörige) in das Kloster Sankt Agnes bei Magdeburg ein; seit 1270 lebte sie als Nonne in dem Zisterzienserinnenkloster in Helfta bei Eisleben. In ihrem siebenbändigen Werk „Das fließende Licht der Gottheit“ offenbart sie in der Form des höfisch-weltlichen Minnesangs und ausdrucksvoller, teilweise ekstatischer Sprache Erfahrungen der Gottessehnsucht, Visionen ihrer Seelenbrautschaft mit Christus und der kosmischen Schöpfungs- und Endzeitgeschichte. Visionen, Offenbarungen, Prophezeiungen sind hier verbunden durch die Verherrlichung der Hochzeit zwischen Seele und Christus. Die sieben Bücher „Das fließende Licht der Gottheit“, deren Original verschollen ist, entstanden zwischen 1250 und 1282 in niederdeutscher Sprache. Der Text, ein herausragendes Zeugnis mystischer Weltdeutung, ist in mittelhochdeutscher Übertragung erhalten [6].